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Warum ich zwischen Gefühlen und Emotionen unterscheide

WICHTIGER HINWEIS: Der Artikel enthält lediglich meine persönliche Meinung und persönlichen Erfahrungen. Die wissenschaftliche Erforschung der Gefühle und Emotionen und ihre Integration in die Medizin stehen noch am Anfang. Der Umgang mit den Gefühlen und Emotionen erfolgt ausdrücklich eigenverantwortlich. Ich übernehme keine Haftung für vermeintliche oder tatsächliche Schäden, die sich aus dem Gebrauch der in diesem Artikel angeführten Inhalte ergeben. Es gilt der Haftungsausschluss (siehe Fußzeile).



Eigentlich ist doch alles klar, oder?

Die Begriffe „Gefühl“ und „Emotion“ begegnen uns immer häufiger, was mich persönlich sehr freut. Auf meinen drei Social-Media-Accounts kann ich die Entwicklung derzeit gut beobachten. Die Gefühle kommen zum Glück immer stärker in unser Bewusstsein. Warum sollte man da nun zwischen den Begriffen Gefühl und Emotion unterscheiden? Es ist doch klar, was mit Gefühlen bzw. Emotionen gemeint ist, oder? Freude, Wut, Angst, Scham, Eifersucht etc. – Jeder weiß doch, was das ist. Wozu sollte eine Unterscheidung gut sein?

Auf diesem Schriftbild sind 10 Gefühle in verschiedenen Schriftarten und Schriftfarben angeordnet: Freude, grün. Angst, schwarz. Missgunst, hellgrün. Verzweiflung, lila. Scham, grau. Neid, gelb. Eifersucht, dunkelrot. Trauer, blau. Wut, rot. Hass, schwarz

Den Unterschied zu kennen, kann Schlimmes verhindern

Auf den ersten Blick mag es beinahe etwas übergenau und pedantisch wirken, die beiden Begriffe voneinander abzugrenzen. Warum es so kompliziert machen? Wenn ich traurig bin, weine ich. Wenn ich mich freue, lache ich. Wenn ich wütend bin, fluche ich. Wenn ich mich schäme, erröte ich. Das reicht doch. Kirsten, wozu dieser Artikel? :-)

 

Ich verstehe die Fragen gut, die ich vor meinem stationären Aufenthalt in der Psychiatrie ab September 2018 sehr wahrscheinlich ebenfalls gestellt hätte. Doch aufgrund meiner eigenen Aufarbeitung der letzten Jahre und der intensiven Auseinandersetzung mit Gefühlen und Emotionen lautet meine Antwort folgendermaßen:

 

Den Unterschied zwischen den Begriffen „Gefühl“ und „Emotion“ zu kennen, ermöglicht es dir, in gefährlichen Aufarbeitungsmomenten und/oder im (Familien-)Alltag die Kontrolle über deinen Körper und dein Verhalten zu behalten. Du bleibst ruhig(er), auch wenn es in dir stürmt und tobt.

 

Wie ich zu dieser Überzeugung kam, erzähle ich dir im Folgenden.

Juni 2023: Meine Botschaft auf einem T-Shirt zu tragen, lässt mich tiefe Freude und Stolz spüren. 

Warum Gefühle wie Neid, Eifersucht und Hass ausklammern?

In meinem Artikel über die Gefühlsbotschaften habe ich bereits beschrieben, dass ich meinem damaligen Lieblingspfleger in der Psychiatrie die Erkenntnis verdanke, dass mir Gefühle etwas sagen möchten. Es war ausgerechnet der Hass, durch den ich lernte, dass Gefühle Botschaften haben und mit Bedürfnissen verbunden sind. In der Folgezeit arbeitete ich unermüdlich daran, herauszufinden, wie sich die Gefühle eigentlich in meinem Körper anfühlten. Fragen wie „Fühlt sich Wut eigentlich immer gleich an?“, „Können mehrere Gefühle gleichzeitig da sein?“, „Was ist ein Gefühl?“, „Hängen die Gefühle mit meinem Skin Picking zusammen?“ ließen mir keine Ruhe und wollten beantwortet werden.

 

Um Ordnung in mein Innenleben zu bringen, half mir entscheidend das Buch „Gefühle & Emotionen. Eine Gebrauchsanweisung“ von Vivian Dittmar. Dank des Buchs verstand ich u. a., wie das Fühlen mit dem Denken und Verhalten zusammenhängt. Da ich zudem alle Übungen im Buch machte, verstand ich nicht nur den Unterschied zwischen Gefühlen und Emotionen. Nein, ich SPÜRTE den wichtigen Unterschied. Genau deshalb schließe ich mich auch ihrer Definition des Begriffs „Emotion“ und, damit einhergehend, der Unterscheidung der Begriffe „Gefühl“ und „Emotion“ an, wozu ich noch genauer komme.

 

Obwohl mir das Buch so half und ich immer wieder gern daraus zitiere, grenze ich mich in Teilen dennoch vom Buch ab. Denn auf Gefühle wie Hass, Eifersucht, Neid, Missgunst und Verzweiflung geht Vivian Dittmar im Buch leider gar nicht oder nur punktuell ein. Sie zählt Wut, Trauer, Scham, Freude und Angst zu den Gefühlen. Ich wiederum hatte ja aber gerade durch den Hass erkannt, dass mir Gefühle etwas sagen möchten und dass Gefühle wie Neid und Eifersucht ebenfalls klare, körperliche Empfindungen in mir auslösen. Warum also Neid, Missgunst, Eifersucht, Verzweiflung, Hass ausklammern?

Auf dem Bild von 1997 bin ich 7 Jahre alt. Außerdem sind mein Opa und mein jüngerer Bruder in der Werkstatt meines Opas zu sehen. Mein Opa hat seine Hände um meinen Bauch gelegt und ich lache in die Kamera. Mein Bruder sitzt auf einem kleinen Tisch.
Das Bild ist von 1997. Mein Opa väterlicherseits (links) nahm sich 2016 das Leben. Ich habe ihn als tyrannisch, unberechenbar, schweigsam erlebt. Viel wusste ich aus seiner Kindheit nicht. Aber er erzählte immer wieder von der Härte kurz nach dem Krieg.

Die systematische Erforschung der Gefühle ist Neuland

Genau an dieser Stelle wird deutlich, dass das große Thema Gefühle schlichtweg Neuland für uns alle ist. Auch und gerade auf wissenschaftlichem Gebiet. Der Psychoanalytiker Arno Gruen kritisierte das Ausblenden der Gefühle in der Wissenschaft deutlich: „Daher müssen wir auf die Mythen eingehen, die häufig das Verhalten von Wissenschaftlern diktieren, besonders im Bereich der Geisteswissenschaften: Dort wird das abstrakte Denken vom Erlebten getrennt, weil das Erleben als subjektiv und deshalb irrational eingestuft wird.“ (Gruen, 2022, S. 78). Im Buch „Dem Leben entfremdet“ schreibt er im Kapitel „Das reduzierte Bewusstsein im Bereich der Wissenschaft“: „Mit anderen Worten: Empathie existiert nicht oder lohnt sich nicht. (…) Diese Art von Wissenschaft hat nicht nur zugenommen, sie bestimmt auch weitgehend das, was zurzeit die Natur des Menschen definiert. Hier wird Empathie als Fundament unserer Menschlichkeit völlig ausgeblendet.“ (Gruen, 2015, S. 47). Das heißt im Klartext für meinen Artikel, den du gerade liest: Mein Artikel ist allein deshalb schon unwissenschaftlich und unseriös, weil ich über Gefühle schreibe und mir darüber Gedanken mache… Hm.

 

Wenn Gefühle per se als unseriös angesehen werden, verwundert es leider nicht, wenn es im großen Lexikon der Psychologie zum Stichwort Gefühl lediglich heißt: „(…) der Begriff G. wird umgangssprachlich mit dem Emotionsbegriff gleichgesetzt.“ (Puca, 2021, S. 691). Zum Stichwort „Emotionen“ heißt es dann: „(…) der Begriff E. bezieht sich auf ein hypothetisches Konstrukt, über dessen Def. [gemeint ist „Definition“; Anmerkung von mir] keine Einigkeit herrscht.“ (Puca, 2021, S. 504).

Auf dem Schwarzweißfoto bin ich knapp 3 Monate alt und liege auf einem Wickeltisch. An einem Fläschchen auf dem Wickeltisch lehnt ein Zettel, auf dem "03.10.90" steht.
Gefühle sind nichts Unseriöses. Wut, Freude, Scham, Eifersucht, Angst, Hass etc. haben ihren Sinn. Aber der bewusste und achtsame Umgang mit den Gefühlsenergien will gelernt sein.

Keine Begriffseinigkeit, viele Synonyme, komplizierte Klassifizierungen

Es herrscht also derzeit keine Begriffseinigkeit. Aus meiner Sicht führt die Unklarheit bei den Begriffen „Gefühl“ und „Emotion“ dazu, dass es aktuell verschiedenste Definitionen, Begriffsvermischungen, unzählige Synonyme und komplizierte Klassifizierungen gibt, die mitunter noch nicht mal den Körper einbeziehen. So werden 5, 10, 50, 100, 500 Gefühle benannt und es herrscht Chaos, was das Aufräumen des eigenen Innenlebens leider derzeit nicht vereinfacht.

 

Und so sind auch meine Definition des Begriffs Gefühl und meine Übersicht zu den Gefühlsbotschaften lediglich persönliche Erkenntnisse und unbewiesene Annahmen. Natürlich könnte ich sagen: „Hey schaut mal, ICH weiß Bescheid!“ und „Meine Übersicht zu den Gefühlsbotschaften wird seit Dezember 2021 total gut auf Pinterest angenommen; da muss ich wohl Recht haben!“; aber vor allem in Anbetracht der Unerforschtheit des großen Themenfeldes und dessen tiefer und weitreichender Bedeutung wäre das einfach nur unseriös und größenwahnsinnig. Ich vermute (und hoffe!), dass sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten hier viel verändern wird. Dr. Patrice Wyrsch geht in seinem Buch zur Neurosensitivität ebenfalls davon aus, dass die ganzheitliche Gesundheit den nächsten großen Wirtschafts- und Veränderungszyklus darstellt (vgl. Wyrsch, 2020, S. 121). Gefühle und Emotionen werden hier aus meiner Sicht ein zentrales Element sein. Und doch will ich mich hier gleich abgrenzen und positionieren: Das Leben besteht nicht nur aus Wirtschaft und Geld ;-). Und wer die Innenwelt einfach nur monetarisieren will, wird bei mir auf Granit beißen und darf mit Gegenwehr rechnen. Für mich ist die Gefühlswelt und unsere damit verbundene Verletzlichkeit ein Heiligtum. Wer beabsichtigt, daraus ein reines Wirtschafts- und Datengut zu machen, lernt die weibliche Ur-Wut kennen.

Das Bild ist vom November 2022. Ich sitze in einem großen Sessel und trage ein lockeres, weißes T-Shirt. Meine Haare sind offen und ich lache entspannt in Richtung Kamera, wobei ich nicht direkt in die Kamera schaue.
Ich freue mich darauf, wenn wir zukünftig immer selbstverständlicher über Gefühle sprechen, die Scheu vor den angeblich "negativen" Gefühlen ablegen und ihre Energien gezielt einsetzen.

Was sind Gefühle und Emotionen für mich?

Aber zurück zu der Frage, was Gefühle und Emotionen für mich sind. Für mich persönlich ist ein Gefühl Energie, die im Körper spürbar ist. Diese Energie beeinflusst situationsabhängig unser Verhalten und dient im Idealfall dazu, unsere Bedürfnisse zu erfüllen.

 

Demnach entsteht ein Gefühl im Jetzt, wodurch es sich von der Emotion unterscheidet: „(…) ein Gefühl unterscheidet sich von einer Emotion grundsätzlich dadurch, dass es unmittelbar im Moment erzeugt wird.“ (Dittmar, 2018, S. 169). Für Vivian Dittmar sind Emotionen „Gefühle, die nicht gefühlt und daher auch nicht als Kräfte eingesetzt wurden.“ (Dittmar, 2018, S. 17). Und dieser Definition schließe ich mich an.

 

Vereinfacht ausgedrückt, kann man also sagen: Gefühle entstehen situationsabhängig im Jetzt, Emotionen sind nichtgefühlte Gefühle aus früheren Situationen.

 

Diese Definition des Begriffs Emotion von Vivian Dittmar finde ich aber nicht einfach nur „cool“ oder „praktisch und leicht verständlich“. Ihrer Übung „Lerne deine emotionalen Ladungen kennen“ (in der 5. Auflage des Buchs, die ich hier verwende, ist es die vierte Übung auf Seite 91) verdanke ich die Erkenntnis, dass Gefühle und Emotionen etwas Unterschiedliches sind und wie wichtig es ist, diesen Unterschied zu kennen. Ganz besonders in sehr schwierigen, dunklen Aufarbeitungsmomenten, in denen sich Emotionen (also nichtgefühlte, angestaute Gefühle) wie Verzweiflung und Angst entluden und ich z. B. mit furchtbaren inneren Bildern, Übelkeit, Schwindel, Beklemmung, veränderter Raumwahrnehmung, starker Unruhe, Durchfall, Druck im Herzbereich, Luftnot zu kämpfen hatte! Wie verheerend hätten solche emotionalen Entladungen sein können, wenn ich nicht gewusst hätte, was mein Körper und meine Psyche da machten!

Das Bild zeigt den ersten Teil meiner Notizen zur erwähnten Übung zur emotionalen Aktivierung von Vivian Dittmar in einem großen Notizheft. Die Fragen von Vivian und persönliche Namen sind abgedeckt.
März 2020: Allmähliche, bewusste Annäherung an meine Emotionen und damit verbundene, unverarbeitete Situationen (1)

Unterschied Gefühle und Emotionen - 2 Beispiele

So begann ich ab dem 17.03.2020 mit der erwähnten Übung, um mich langsam an meine emotionalen Altlasten und die entsprechenden körperlichen und psychischen Empfindungen heranzutasten. Nach Vivian Dittmar können u. a. folgende Merkmale darauf hindeuten, dass Emotionen aktiviert wurden (vgl. Dittmar, 2018, S. 90):

  • Innere Anspannung
  • Engegefühl im Bauch, Hals oder Brust
  • Hitze- oder Kälteempfindungen
  • Plötzlicher Stimmungswechsel
  • Veränderte Raumwahrnehmung
  • Schuldzuweisungen
  • Gedankenschleifen
Das Bild zeigt den zweiten Teil meiner Notizen zur erwähnten Übung zur emotionalen Aktivierung von Vivian Dittmar in einem großen Notizheft. Die Fragen von Vivian und persönliche Namen sind abgedeckt.
März 2020: Allmähliche, bewusste Annäherung an meine Emotionen und damit verbundene, unverarbeitete Situationen (2)

1. Beispiel: Wenn der Papa fehlt

Eine Situation, die bei mir immer wieder starke Eifersucht und Angst auslöste, war, wenn ich mit einem Mann chattete und nicht sofort bzw. erst Stunden später eine Antwort zurückkam. Die Stunden waren furchtbar qualvoll für mich und gleichzeitig schämte ich mich für mein Verhalten! Ich denke, das kennen einige. Jahrelang ging das bei mir so. In solchen Situationen fühlte ich mich dann sehr ängstlich, zurückgesetzt, wütend, enttäuscht, ungeliebt, eifersüchtig. Merkmale der emotionalen Aktivierung waren z. B. plötzlicher Stimmungswechsel, Gedankenschleifen (Warum antwortet er nicht? Hat er eine Andere? Bedeute ich ihm nichts? Warum macht er das???) und Motivationslosigkeit, weil ich nur noch an den Mann dachte und keine Lust mehr auf andere Dinge hatte. Ich weiß, das ist nicht ohne und war für beide Seiten stets frustrierend und sehr anstrengend.

 

Aber die Ursachen für mein Verhalten kamen nicht von ungefähr: Das Warten auf Nachrichten war für mich u. a. mit der jahrelangen Ignoranz durch meinen Stiefvater verbunden. Je nach Belieben ignorierte er mich mal tage-, wochen- oder monatelang. Kaum sprach er wieder mit mir, konnte die Stimmung jederzeit wieder kippen. Die Gründe dafür wusste nur er. 8 Monate schaffte er mal am Stück, nachdem ich meinen Vater zu meiner Jugendweihe eingeladen hatte. Meine Mutter machte hin und wieder sogar mit. Geholfen hat mir in all den Jahren niemand, obwohl viele in meiner Familie wussten, was bei uns los war.

Auf dem Foto von 2004 bin ich 14 Jahre alt. Es wurde abends während eines Dänemarkurlaubs in einer Ferienwohnung aufgenommen. Ich sitze auf einem Sofa und spiele mit jemandem Karten. Mit Kuli habe ich 2020 Engelsflügel hinzugefügt.
Das Bild ist von 2004. Zu dieser Zeit war es für mich längst Alltag, immer wieder ignoriert zu werden. Mal wochen-, mal monatelang. 8 Monate am Stück sind der "Rekord". Die Gründe waren beliebig und willkürlich. Die Flügel fügte ich 2020 hinzu.

Aber meine starke Angst und Eifersucht hingen auch mit meinem Vater zusammen: Meine Eltern trennten sich, als ich 8, mein Bruder 5 Jahre alt und meine Schwester gerade auf der Welt waren. Die Trennung, die ich unmittelbar mitbekam, lief so ab: Meine Eltern stritten sich, mein Vater rauschte an mir vorbei, die Wohnungstür ging auf, die Wohnungstür flog zu und das wars. Aus, Ende, vorbei. Wir sahen ihn zunächst monatelang nicht, kein Lebenszeichen. Als er uns dann irgendwann doch abholte, „vergaß“ er uns regelmäßig oder es kam kurz vor der vereinbarten Zeit eine knappe SMS, dass er uns nicht holen könne. Mehr erfuhren wir nicht. Das tat jedes einzelne Mal fürchterlich weh, doch statt Trost gab es von meiner Mutter Häme („Ich habs euch ja gesagt!“ etc. Meine Mutter und ihre Brüder wurden von ihrem Vater in der Kindheit übrigens ebenfalls verlassen. Sie hat das nie verarbeitet). Oder er stellte uns ständig neue Frauen vor; oder meine Schwester durfte ihn jahrelang nicht sehen; oder er nutzte uns einige Jahre nach der Trennung ganz bewusst aus und verschwand wieder… Ach, das sind alles so doofe Geschichten.

 

Antwortete mir also ein Mann nicht oder ich wartete „lange“ auf eine Nachricht, kam jedes Mal all das wieder in mir hoch und führte zu den erwähnten Gedankenschleifen, dem Stimmungswechsel, der starken Eifersucht etc.

Auf dem Urlaubsbild von 1992 bin ich knapp 2 Jahre alt. Mein Papa sitzt in einem braunen Sessel. Mit blauem Schnuller im Mund sitze ich auf seinem Schoß und er umarmt mich. Ich trage ein pinkes Oberteil und eine pinke Hose.
Das Foto ist von 1992 und zeigt meinen Papa und mich. Das Bild habe ich 2019 ins Buch "Weil du mir so fehlst" geklebt, um damit endlich die Trennung meiner Eltern aufzuarbeiten und ihm zu vergeben. Wobei es allerdings kein Happy End gibt.

2. Beispiel: Aus einer Mücke einen Elefanten machen?

Das zweite Beispiel erlebte ich 2022 mit meinem ehemaligen Mitbewohner. Wir wohnten von August 2021 bis Juli 2022 zusammen. An einem Abend kochte er und er brauchte Mehl für eine Mehlschwitze. Aus irgendwelchen Gründen war aber keines mehr da. Aus heiterem Himmel ranzte er mich an, machte mir Vorwürfe und Schuldzuweisungen, wurde laut, ging aus der Küche auf den Balkon und rammte die Balkontür zu. Puh! Ich ging hinterher und fragte ihn, was los sei. Er blaffte mich nur an, dass er seine Ruhe wollte. Natürlich war ich erst sehr erschrocken. Da ich ihn, seine Kindheit und das Verhältnis zu seinen Eltern aber gut kenne und mich ja selbst intensiv mit Gefühlen, Emotionen und emotionaler Aktivierung auseinandergesetzt habe, war mir schnell klar, dass hier Emotionen wachgerufen wurden. Seine Reaktionen waren, im Verhältnis zur eigentlichen Situation („kein Mehl da“), viel zu heftig. So wie bei mir mit der ausbleibenden Nachricht eines Mannes im ersten Beispiel. Mein Schreck war schnell weg und ich bat die Nachbarn um etwas Mehl. Das Interessante dabei: Als sich mein Mitbewohner etwas beruhigt hatte und das Mehl sah, fragte er mich verdutzt, woher das Mehl komme. Seine körperlichen und psychischen Empfindungen waren zunächst so heftig, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Auf die Idee, die Nachbarn nach etwas Mehl zu fragen und so das Problem zu lösen, konnte er in diesem Moment der (ihm unbewussten) emotionalen Aktivierung nicht mehr kommen!

Das Bild zeigt einen A4-großen Notizzettel, welcher mit einem Magneten an einem Kühlschrank befestigt ist. Mein Mitbewohner hatte seine bisherigen Erfolge aufgeschrieben. Sein erster und wichtigster Punkt lautete aber: "Meine Mutter überlebt!"
Anfang 2022: Mein damals 37-jähriger Mitbewohner hatte seine bisherigen Erfolge im Leben aufgeschrieben (die er bis dahin nicht als solche wahrnahm). Sein erster und für ihn der wichtigste Punkt: "Meine Mutter überlebt!"

Der Vergangenheit neu begegnen

Ich möchte zusammenfassend mit diesem Artikel ausdrücken, dass es mir wichtig ist, bei der Aufarbeitung von Emotionen und den damit verbundenen Situationen vorsichtig und achtsam vorzugehen. Wenn du den Eindruck hast, dass du noch nicht so weit bist oder du hast schlichtweg Angst vor der möglichen Wucht der Empfindungen, ist das überhaupt kein Problem. Lass dich bitte nicht drängeln, von niemandem.

 

Und auch das ist mir wichtig: Wenn wir anfangen, uns den früheren, verdrängten Gefühlsaltlasten zu stellen, kommen auch die entsprechenden Situationen wieder ins Bewusstsein. Spätestens an dieser Stelle hören Marketing- und Verkaufssprüche wie „Lass deine Vergangenheit los“ auf. Wir werden der Vergangenheit und unserer Geschichte neu begegnen: Zwei Weltkriege, die NS-Zeit, die Erziehungsmethoden von Johanna Haarer, die Shoa/der Holocaust, die Spaltung Deutschlands, Ost-West-Feindbilder, die Wiedervereinigung, aber auch Rollen- und Geschlechtererwartungen an „Mann und Frau“, die Prägung durch die Religionen, die Prügel und das Demütigen von Kindern in so vielen Familien… So viele (Kinder)Tränen wurden in unserem Land nicht geweint, so viel (Kinder)Wut blieb bisher ungehört, so viel (Kinder)Schmerz wurde nicht herausgeschrien, so viel (Kinder)Verzweiflung wurde ignoriert, so viel (Kinder)Angst nicht beruhigt.

 

Das kollektive Verdrängen ist damit vorbei.

 

Von Herzen und sei gut zu dir.

Kirsten

Auf dem Bild sind drei Kreise zu sehen. In jedem Kreis klebt ein Babyfoto. Auf den ersten beiden Fotos sieht man jeweils meine Eltern als Babys in Kinderwagen. Ihre Gesichter sind abgedeckt. Auf dem dritten Bild bin ich als Baby zu sehen.
Ja, unsere (Groß-)Eltern haben mitunter eine ganze Menge verbockt. Dennoch habe ich eine persönliche Bitte: Lasst uns nicht vergessen, wie vorherige Generationen aufwuchsen. Ein Kind kommt nicht als Gewalttäter:in auf die Welt.

Quellen:

Dittmar, V. (2018): Gefühle & Emotionen. Eine Gebrauchsanweisung. 5. Auflage. edition est.

 

Gruen, A. (2015): Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden. 2. Auflage. dtv.

 

Gruen, A. (2022): Wider den Gehorsam. 14. Auflage. Klett-Cotta.

 

Puca, R. M. (2021): Emotionen. In: Wirtz, M. A. (Hrsg.): Dorsch - Lexikon der Psychologie. 20. Auflage. Hogrefe.

 

Puca, R. M. (2021): Gefühl. In: Wirtz, M. A. (Hrsg.): Dorsch - Lexikon der Psychologie. 20. Auflage. Hogrefe

 

Wyrsch, P. (2020): Neurosensitivität. Die Kraft der Hochsensitiven. Eigenverlag.

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