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Warum wir uns manchmal den Tod wünschen

In diesem intensiven und sehr persönlichen Artikel teile ich mit dir anhand einiger Auszüge aus meinen Tagebüchern, wie ich im Januar 2020 erstmals erkannte, dass ich keine Ahnung hatte, wie das gehen soll: Leben. Über den Jahreswechsel 2019/2020 war ich nochmal einer äußerst bitteren und schmerzhaften Erkenntnisflut ausgesetzt, die mich abermals an den Rand des Aufgebens führte. Um das Kind beim Namen zu benennen und damit du für dich abschätzen kannst, ob der Artikel für dich geeignet ist: Ich rutschte nochmal an den Rand der Suizidalität (ohne Suizidversuch) und so beginnt der erste Tagebucheintrag. Bitte beachte unbedingt den Hinweis zur Eigenverantwortung am Ende der Seite. Dort findest du außerdem viele verlinkte Hilfsangebote, falls es dir momentan nicht gut geht. Du brauchst nur auf die Logos zu klicken.

Warum wir uns manchmal den Tod wünschen: Ständige Anpassung

Für mich bedeutete  das Leben nur eines: Kampf

Im Januar 2020 lagen bereits 15 sehr anspruchsvolle Aufarbeitungsmonate hinter mir und ich hatte viel gelernt. Doch ausgelöst durch einige Erlebnisse zum damaligen Jahreswechsel wurde mir klar: Mein ganzes Leben war bis dahin nur Kampf gewesen. Gefühlt war es ein einziger, durchgängiger Kampf.

 

Ich konnte dem Leben bis dahin kaum etwas Gutes abgewinnen. Von klein auf ging es für mich ums Kämpfen, was mir natürlich nicht bewusst war. Ich hatte keine Ahnung, wie ein Leben ohne Kampf, Anstrengung und Anpassung aussehen könnte. Ist das überhaupt möglich? Ich wurde wütend; auf mich, auf das Leben. Wofür rackerte ich mich bitte so ab, wenn ich am Ende nur immer und immer wieder in die Verzweiflung rutschte?!?!

Warum wir uns manchmal den Tod wünschen: Leben als einziger Kampf

Ich bestieg Berg um Berg um Berg

Wie oft hatte ich das innere Bild vom nicht endenden Berg gesehen. Dieses Bild begleitete mich seit meiner Jugend. Das Gebirge wollte und wollte kein Ende nehmen. Hatte ich geglaubt, doch mal einen Gipfel zu erreichen, sah ich nur was? Berge. Von Jahr zu Jahr wurde der Rucksack schwerer, die Luft dünner, die Berge höher. Leben hieß für mich: Kämpfen, Anstrengen, Aushalten, Durchhalten.

 

Ich hatte mir so oft Erlösung gewünscht. Von diesem nie endenden Kampf. Von diesen verdammten Bergen. Von diesem so anstrengenden Etwas, das sich „Leben“ nannte. Schon in meiner Jugend fragte ich mich, ob es nicht besser und leichter wäre, einfach zu sterben. Dann hätte das alles ein Ende.

 

Falls es dir ähnlich geht, kann ich dich gut verstehen. Was bedeutet das Leben für dich? Was fühlst du, wenn du an das Wort „Leben“ denkst? Fällt es dir schwer, unbefangen und leicht „Ja“ zum Leben zu sagen? Wie oft hast du es trotzdem versucht und bist gefühlt doch wieder gescheitert? Hast du es vielleicht sogar aufgegeben? Das kann ich gut nachvollziehen. Wenn du magst, lade ich dich nun in eine kleine Vergangenheitsreise ein...

Leben als einziger Kampf: Schwere Last

Auszüge aus meinen Tagebüchern

02.01.2020

Das Ganze ist wirklich hart. Ich spürte gerade in diese bittere Erkenntnis hinein (…). Aber mir ist eben klar geworden, dass das ein kindlicher (und ganz natürlicher) Wunsch ist, der unerfüllt bleiben wird. Ein Teil in mir bekommt da richtig Panik und will sich damit überhaupt nicht abfinden. Vor kurzem hätte mich das noch in pure Verzweiflung getrieben. Dann wäre es wieder kritisch geworden. Ich kann diesen Teil in mir so gut verstehen [mit „Teil“ meine ich hier mein inneres Kind]. Mir ist gerade, als ob ich diesen panischen Teil sogar beobachten könnte. Aber ich kann ihm gerade nicht helfen. Denn die Wahrheit ist eben so derart bitter, es gibt nichts zu beschönigen. Es ist so unbeschreiblich hart gerade.

 

Es macht auch keinen Sinn, mir selbst gut zuzureden und mich selbst zu umarmen. Nein, das fühlt sich gerade furchtbar an, als ob ich mein inneres Kind nicht ernst nehme. Es wäre nur eine schmerzhafte Ersatzhandlung, um meine Hilflosigkeit zu überdecken (…).

 

Ich spüre die Suizidgedanken. Ich merke, wie sich der Fokus in mir verengt. Ich stehe am Anfang eines ganz schmalen Kanals, den ich so gut kenne und der ein Ziel hat: Suizid. Es ist fast wie bei einer dunklen Wasserrutsche. Ich halte mich am Griff fest, bereit, um kräftig Schwung zu nehmen. Die Ampel hat schon auf Grün umgeschaltet. Ich muss nur kräftig Schwung nehmen…

 

Ich wünsche mir gerade so sehr eine weise, alte Frau bei mir, die nichts sagt, einen Arm um meine Schulter und den anderen Arm um meinen Kopf legt, mich behutsam an sich drückt, damit ich einfach nur weinen kann. Sie muss nichts sagen, weil sie meinen Kummer fühlt. Und ich kann einfach weinen und bin dabei nicht allein.

 

Die Klebezettel, auf die ich die vielen Fähigkeiten der Hochsensibilität schreiben möchte, liegen direkt vor mir. Der Laptop ist an, bereit, um Ulrike Hensels Buch zu öffnen. Es ist gerade alles so weit weg.

 

Ich will diesen Kanal nicht runterrutschen. Ich lasse die Stange los und gehe aus dem Wasserbecken. Aber was mache ich nun?

04.01.2020

Mir ist noch etwas wegen der gefühlten Schwäche im Moment wichtig. Ich will wirklich leben. Ich will so viele schöne Dinge erleben und genießen. Ich habe aber das Gefühl, dass dieses erfüllte und bunte Leben im Moment sehr weit weg ist. Ich stehe an einer Weggabelung:

Warum wir uns manchmal den Tod wünschen: Tagebuchauszug

Oder besser gesagt: sitze. Ich habe mich zwar gegen den Suizid entschieden. Doch das „Leben“ scheint so weit weg. So deutlich habe ich das bisher noch nie gefühlt. Ich habe so wenig Kraft. Keine Kraft, um zuversichtlich zu denken, keine Kraft, um aufzustehen. Ich sitze einfach an diesem Schild und sehe, wie weit das Leben weg ist.

 

Seltsamerweise tut mir das sogar irgendwie gut. Die ganze Situation im Moment, die Erkenntnisse der letzten Tage in ihrer Klarheit und Deutlichkeit aushalten. Keine Notlösung finden, nichts verschleiern. Die ganze Grausamkeit begreifen.

 

Ich will wirklich leben. Und doch hält mich irgendwas an meinem Platz…

 

06.01.2020

Als ich gestern von der wundervollen und mich sehr berührenden Tanzveranstaltung kam, arbeitete es weiter. Ich weiß den genauen Auslöser nicht mehr. Doch als ich wieder zu Hause war, war ich wütend. Auf das Leben. Ich wollte, dass mir das Leben endlich mal zeigt, warum es bitte lebenswert sein soll. Was hat es bitteschön zu bieten, dass ICH weiterlebe???

 

Mir ging einfach meine Wegskizze von vor 2 Tagen nicht aus dem Kopf. Doch dann dachte ich, dass es vielleicht nicht so klug ist, sich mit solchen starken Mächten wie dem Leben und dem Tod anzulegen. Schließlich musste ich ja noch zur Tanzschule radeln. Auf einen schweren Unfall hatte ich als „Zeichen“ keine Lust.

 

Und dann „sah“ ich es plötzlich. Ich saß, wie in der Skizze, neben dem Wegweiser und sah in der Ferne das, was ich bisher für das Leben gehalten hatte. Es ähnelte einem großen Zirkus. Laut, grell, hektisch. Da wurde mir bewusst, dass ich mein bisheriges Leben lang immer wieder in diesen Zirkus gerannt war, der so gar nicht zu mir passte. Bis ich es nicht mehr aushielt und einige Zeit später wieder am Abgrund stand… Irgendwas mache ich also nicht richtig…

 

Und so saß ich gestern bildlich am Wegweiser, mir war wegen der Nähe zum Abgrund etwas unbehaglich und betrachtete, ja… diesen Zirkus. In meinem Tempo. Ich saß einfach nur da und beobachtete. Bis es mir auffiel. So komisch, wie das vielleicht jetzt klingt, aber genau so fühle ich mich:

 

Ich habe keine Ahnung, wie man lebt.

Ich weiß nicht, wie das geht – Leben.

 

Ich fühlte eine solche Erleichterung. Endlich begriff ich mein Problem. Ist dieser Zirkus eigentlich mein Leben? Muss ich in diesem Zirkus leben? Aber wenn ich nicht in diesem Zirkus leben möchte – wo dann?

Ich erkannte erstmals: Dieses "Leben", dieser Zirkus, ist nicht mein Leben

Und am 06.01.2020 stand ich wieder auf :-). Doch diesmal machte ich innerlich einen Bogen um den Zirkus. Natürlich hatte ich überhaupt keine Ahnung und Vorstellung, was stattdessen auf mich wartete. Dazu habe ich noch einen Auszug aus meinem Tagebuch vom 06.01.20:

 

Mir hilft an der Stelle ein Satz, den ich vor 2 Tagen gelesen hatte: „Sei auch auf Sackgassen gefasst. Die Selbstfindung ist eine Reise und kein Ziel.“ (1) Wenn das Ganze also eine Reise ist – wieso wähle ich dann als Ziel den Zirkus? Naja, ich kenne ihn eben gut. Und fremde Dinge machen mir erstmal viel Angst. Aber auch das steht im Artikel: „Eine Menge von dem wird durch "Versuch und Irrtum" erreicht. Das ist der Preis, den man für die letztendliche Befriedigung bezahlen muss. Und hier fällt man wahrscheinlich sogar häufiger auf die Nase als andersherum. Bereite dich darauf vor, zu begreifen und anzuerkennen, dass alles zum Prozess dazugehört. Darum steht man auf und versucht es erneut.“ (2) Und ich stehe wieder auf. Doch diesmal meide ich den Zirkus :-).

Warum wir uns manchmal den Tod wünschen Zuversicht

Nur Du entscheidest

Es ist keinesfalls leicht, dem Leben nochmal eine Chance zu geben. Besonders dann, wenn das Leben für dich bisher ein einziger Kampf war, du schon viel durchmachen und überleben musstest. Wenn es für dich nahezu unvorstellbar ist, dass das Leben auch leicht und angenehm sein kann, kann ich das gut verstehen. „Darum steht man auf“ ist so leicht gesagt. Doch wenn du viel Schweres in deinem Herzen trägst (worum du natürlich nicht gebeten hast), kann das erneute Aufstehen so so so schwer sein. Und nur du entscheidest das.

 

Ich bin in Gedanken bei dir.

 

Deine Kirsten

 

Weiterführende Blogtipps:

Im Juli 2021 erhielt ich von Stephan Keßler eine sehr nette Mail. Er erwähnte darin auch seinen Blog "Glücklich trotz Zweifel", den ich mir umgehend ansah. Und war von seiner Lebensgeschichte sehr berührt... Ich bewundere Stephan, wie er mit allem umgeht, wie er kämpft und sich seinem Innenleben stellt.

 

Auch die Lebensgeschichte von Heike Pfennig geht mir sehr zu Herzen. In ihren Texten finde ich viele Empfindungsparallelen zu mir. Als ich ihren Blogartikel über den Verlust ihrer ersten Tochter und die anschließende irre Gewalt durch ihren Exmann las, sind mir die Tränen gelaufen. Anschließend schoss eine solche Wut in mir hoch, dass mein Gedicht "Die Frauen der neuen Zeit" entstand. Hier findest du den Artikel.

Quelle:

(1) Klaphaak, Adrian: Zu sich selber finden. URL: https://de.wikihow.com/Zu-sich-selber-finden (zuletzt aufgerufen am 16.01.2022)

(2) Ebenda

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Kommentare: 6
  • #1

    Katrin (Samstag, 25 Juni 2022 10:52)

    Das Leben als einen einzigen, immer währenden Kampf empfinden und nicht wissen, wie es eigentlich funktioniert "leben" - das kenne ich auch nur zu gut! Ganz lieben Dank für diesen tollen Text Und deine berührende, mutige Ehrlichkeit!! Fühl dich ganz fest umarmt!♡

  • #2

    Kirsten (Samstag, 25 Juni 2022 23:08)

    Liebe Katrin,
    solche herzlichen Worte zu einem so sensiblen Thema bedeuten mir viel.
    Nicht zu wissen, was leben ist, ist ein schmerzhaftes Eingeständnis. Und doch kann so viel Gutes daraus neu entstehen.
    Ganz herzliche Grüße!

  • #3

    Andrea Weinert (Mittwoch, 31 Januar 2024 11:06)

    Hallo Kirsten Du sprichst mir aus der Seele seit vielen Jahren habe ich das gleiche Problem und Gefühl bin in Gedanken bei dir lG Andrea

  • #4

    Kirsten (Freitag, 02 Februar 2024 23:54)

    Danke für deine Worte, liebe Andrea!

  • #5

    Eine Blume... (Donnerstag, 04 April 2024 23:27)

    Ich habe deine Zeilen gelesen, so vieles fühlen können...
    Ich über-lebe schon zu lange in schweren Depressionen, wozu auch einige sehr schwere Suizidversuchen gehören.
    Bestimmt 3x hatte ich es geschafft, 'oben' anzuklopfen. Mir wurde sogar schon die Türe aufgemacht. Doch dann kam eine solche Wucht, die mich am Hineingehen hinderte und regelrecht nach hinten riss... Irgendwann, wenn der Kopf wieder fähig ist zu begreifen, auf irgendeiner Intensivstation, entweder nach vielen Transfusionen, oder einem künstlichen Koma oder Blutwäsche um Blutwäsche...
    WARUM?!!! WARUM DURFTE ICH NICHT WEITERGEHEN??!!!!!!!
    Im "Leben" zurück, habe ich bis jetzt keinen Ort mehr gefunden, wo ich, wo meine Seele, mein Körper heilen kann...
    Und nun, da bin ich müde. So unendlich müde vom Kämpfen um zu leben, wo es doch nur ein einziger Überlebenskampf war.
    Ich verabschiede mich. Hier, in diesem Fenster, wo Wort um Wort stehen, Worte die, obschon sie lange zu lesen waren und sind, nicht wahrgenommen wurden...
    Nun ist meine Lebens - Kraft zu Ende...

    Ich mache mich auf den Weg - und finde hoffentlich (m)ein Ziel und meinen Frieden...

    Danke.

  • #6

    Kirsten (Freitag, 05 April 2024 01:55)

    Du Blume, du schöne Seele... Ich rede dir nichts ein und nichts aus. Dein Kommentar und das, was zwischen den Zeilen steht, gehen mir natürlich sehr zu Herzen.

    Vieles könnte ich jetzt schreiben und ja, mittlerweile bin ich leidenschaftlich davon überzeugt, dass das Leben (auch) schön sein kann. Was auch immer das konkret für ein Individuum bedeutet.

    Aber du bist in einer Situation, in der Worte überflüssig sind und mehr Schaden anrichten können, als dass sie nützen...

    Jetzt habe ich eine ganze Weile in mich hineingespürt, was mir mein Herz zu deinen Worten sagt. Ich bekam folgende Botschaft: Ich weiß mittlerweile, dass ich nicht aus Liebe gezeugt wurde. Doch auf einer tieferen Ebene hat das Leben gewollt, dass ICH, Kirsten Scherbaum, lebe. Und ich war schon immer "richtig", mein Wesen war nie ein Fehler. Ich sollte leben, so wie ich bin.

    Natürlich kenne ich deine Geschichte nicht und es steht mir in keinster Weise zu, dir hier irgendwelche "Ratschläge" zu geben. Aber wenn eine Seele, eine Blume, aufrichtig überlegt, das eigene Leben zu beenden, geht mir das sehr nahe...