Während meines stationären Psychiatrieaufenthaltes im Herbst 2018 hatte ich es mir schnell angewöhnt, mehrfach am Tag Spaziergänge auf dem Klinikgelände zu machen. Die frische Luft und die Bewegung taten mir gut und ich konnte in Ruhe meinen Gedanken nachhängen. Doch an einem Nachmittag war alles anders. Ich beobachtete eine Situation, an die ich bis heute immer wieder denken muss. Sie berührt mich heute noch sehr stark und manchmal habe ich Tränen in den Augen.
Ich war auf meiner üblichen Runde unterwegs und sah schon von weitem eine Kindergartengruppe. Ein kleines, vielleicht 3- oder 4-jähriges Mädchen weinte und schrie in den Armen eines Mannes. Zwei weitere kleine Kinder und zwei Erzieherinnen standen bei ihnen, der Rest der Gruppe stand mit einer weiteren Erzieherin etwas weiter weg. Mein Weg führte parallel an ihrem vorbei und in einiger Entfernung blieb ich stehen. Beim Anblick der Kleinen zersprang mir das Herz. Immer wieder schrie sie: "Papa, geh nicht!" Völlig verzweifelt hielt sie sich an ihrem ebenfalls weinenden Papa fest. Einer der beiden Erzieherinnen fiel nichts Besseres ein, als wiederholend zu sagen: "Jetzt lass doch bitte mal den Papa los. Wir müssen auch weiter." Der Mann löste sich von seiner Tochter, ging langsam in Richtung Klinik zurück und wischte sich immer wieder mit dem Arm über das Gesicht. Die Kleine brüllte und weinte in größter Verzweiflung. Doch für mich war das Verhalten der Erzieherinnen beinahe noch unerträglicher. Denn während sich der Vater von der Kleinen gelöst hatte, hielten die beiden Frauen das Mädchen fest. Und statt sie tröstend und liebevoll in den Arm zu nehmen, wurde sie angekeift: "Hör doch jetzt auf so zu heulen!", "Wir müssen zum Essen!", "Hast du's dann bald mal?!" Bis heute höre ich diese Sätze. Das ging so lange, bis die Kleine erschöpft und kraftlos aufgab und die Gruppe langsam weiterging.
Mir setzt die Situation bis heute zu. Nicht nur weil ich noch immer schockiert wegen des Verhaltens der Erzieherinnen bin. Sondern weil ich die Verzweiflung der Kleinen selbst gut nachvollziehen kann. Sie hätte in dieser so dramatischen Situation dringend Trost gebraucht. Stattdessen erfuhr sie von allen Ablehnung, Gefühlskälte, Ignoranz und Lieblosigkeit. Und bis heute hadere ich mit mir, weil ich von meinem eigenen Schock und meiner Ohnmacht so gefangen war. Mir ist zwar klar, dass ich damals selbst noch nicht stabil war. Doch das Bedürfnis, zu der kleinen Maus hinzugehen und sie in den Arm zu nehmen, habe ich damals deutlich in mir gespürt. Ich ärgere mich bis heute über einen damaligen Gedanken in mir, dem ich gefolgt war: "Misch dich besser nicht ein." Ich fühlte mich hilflos und habe tatenlos zugesehen. Es fällt mir schwer, mir meine Mutlosigkeit und Tatenlosigkeit selbst zu verzeihen. Zwar habe ich daraus gelernt und stelle mich heute solchen Momenten. Doch das hilft der Kleinen auch nicht...
(Bildquelle des Vorschaubildes: Julitsc)
Kommentar schreiben