In diesem Artikel schreibe ich darüber, wie ich mich den Schuldgefühlen aufgrund des sexuellen Missbrauchs stellte. Bitte pass gut auf dich auf und beachte unbedingt den Hinweis zur Eigenverantwortung am Ende der Seite.
Ich kann selbst nicht abschätzen, ob dieser Artikel nicht vielleicht die dümmste Idee meines Lebens ist. Denn ich kann nicht einschätzen, was passiert. Und trotzdem ist da etwas in mir, das mir sagt, ich soll diesen Text schreiben. Ich schreibe nicht darüber, was mir im Detail passiert ist. Es geht darum, warum ich der tiefen Überzeugung war, selbst am Missbrauch schuld gewesen zu sein und wie ich diesen gefährlichen Moment überstanden habe.
Der Text ist schonungslos und ich möchte mit diesem Artikel ein Zeichen gegen sexuellen Missbrauch und sexuelle Gewalt setzen.
Ich verdrängte den Missbrauch
Als ich im November 2018 die psychiatrische Klinik verließ, konnte ich nahtlos in der Psychiatrischen Institutsambulanz mit der Psychotherapie beginnen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als mich meine Therapeutin gleich in der ersten Sitzung fragte, ob wir über den Missbrauch reden wollen. Selbstbewusst sagte ich Nein. Zu dieser Zeit bedrängten mich die Ereignisse nicht. Zumal ich lange der festen Überzeugung war: Ich hab es doch selbst gewollt und zu allem Ja gesagt. Wir sprachen dann auch während meiner gesamten Therapie nicht weiter darüber. Ich lernte in den folgenden Monaten immer mal verschiedene Männer kennen und der Missbrauch war nie ein Thema für mich.
Doch dann: Münster
Was sich in Münster ereignet hatte, berührte mich ab der ersten Nachrichtenmeldung im Frühjahr 2020. Es ließ mich nicht los. Ich verfolgte die Pressekonferenzen und die Nachrichtenmeldungen der Polizei auf Facebook. Zwar kamen meine Erinnerungen noch nicht hoch. Aber ich begann zu Missbrauchsopfern und Erfahrungsberichten zu recherchieren und wollte wissen, wie ich mich verhalten soll, wenn ich sexuellen Missbrauch bei einem Kind, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen vermute. Was das alles mit mir zu tun hatte, wurde mir Anfang Juni 2020 schlagartig klar.
Alles kam wieder hoch
Ich weiß heute nicht mehr genau, was dann der entscheidende Auslöser war. All die Zeit über hatte ich die „Erlebnisse“ für mich unter „freiwillig“ verbucht. Doch um eines ganz klar zu sagen: Es war nicht freiwillig. Kein einziges Mal. Denn die inneren Muster, die mich in den Missbrauch getrieben hatten, kamen aus meiner Kindheit. Zu einem „Nein!“, schon bei den subtilen Anfängen, war ich damals einfach nicht in der Lage. Und genau das wurde ausgenutzt.
Mich überschwemmten die Bilder und Erinnerungen. Jede einzelne Scheißsituation musste ich mir ansehen. Die pure Hölle. Und das schlimmste war dabei für mich, dass ich erstmals meine Körpersignale von damals wieder spürte. Jedes noch so zarte oder kräftige Muskelzusammenziehen in den Oberschenkeln, Beineverschließen, Abwenden, Augenschließen, die Finger auf und zwischen meinen Beinen, das Taubwerden, das innere Erstarren, der übergangene Ekel, mein eigenes Einreden („Es ist schon ok.“), meine sich verkrampfenden Schultern und Arme… alles spürte und hörte ich erstmals wieder. Es war unsagbar grausam. Obwohl ich mir immer gesagt hatte, dass ich es „gerne“ und „von mir aus“ getan hatte, wurde mir plötzlich klar, dass mein Körper immer Abwehrsignale gefunkt hatte. Doch zur Zeit des Missbrauchs war an meine Körperwahrnehmung noch lange nicht zu denken. Ich überging und überging und überging damals jedes Signal. Doch es war alles in mir abgespeichert und löste sich im Juni 2020.
Der Nervenzusammenbruch
Dann wachte ich eines morgens auf und es ging mir wahnsinnig schlecht. Ich weinte auf eine verzweifelte Art, die mir neu war. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich aufstehen wollte, aber es exakt bis vors Bett schaffte und dann einfach nur weinte. Erinnerungen an meinen Zusammenbruch im September 2018 kamen wieder. Doch durch meine Aufarbeitungserfahrungen zur Depression wusste ich, dass da etwas richtig Tiefes in mir an die Oberfläche wollte. So rief ich nicht den Notarzt. Was auch immer sich mir da zeigen wollte: Ich wollte mich dem stellen.
Innerlich ging ich an die Anfänge zurück. Wann passierte der erste körperliche Übergriff (glaub mir, mir ist beim Schreiben grad kotzübel)? Dann sah ich die Situation innerlich wieder vor mir. Tortur pur. Plötzlich schossen grelle Blitze durch meinen Kopf und ich hörte, wie ich innerlich schrie: „Ich hab es doch gewollt!!! Ich hab immer Ja gesagt!!! Ich hab es selber gewollt!!!“ Und dann schoss mir eine grausame Frage durch den Kopf: Warum glaubte ich, dass ich den Sex und das Anfassen wirklich gewollt hatte?
Ich sah alles vor mir. Spürte meinen Körper wieder. Diese scheiß Blitze in meinem Kopf und dieses innere Schreien machten mich fast wahnsinnig... Bis die gnadenlose Antwort vor mir stand: „Ich war doch immer feucht.“
Alles hing am seidenen Faden
Was dann in mir abging, kann ich kaum in Worte fassen. Einerseits kapitulierte ich innerlich. Ich spürte, dass etwas in mir aufgab. Gleichzeitig hörte ich lautes Schreien. Mein Körper schrie mir zu: „Ich hab es nicht gewollt!!!“ Und immer diese grellen Blitze. Die Scham, den Ekel und die Abscheu, die ich mir selbst gegenüber empfand, kann ich nicht beschreiben. Und während mich mein Körper anschrie, hämmerte es mir ständig durch den Kopf: „Ich hab es doch gewollt!!! ICH war feucht!!“
Woher dann der folgende Impuls kam, weiß ich bis heute nicht. Ich nahm allen erdenklichen Mut zusammen und von irgendwoher packte ich noch eine Schippe Mut drauf und googlete. Ich werde nie vergessen, wie ich dabei dachte: „Wenn da jetzt irgendwo steht, dass ich selbst am Missbrauch schuld war, springe ich aus dem Fenster.“ Ja, das hätte ich getan. Damit hätte ich nicht leben können. Vor Tränen habe ich das Display nicht richtig gesehen. Ich googlete: „feucht werden bei Missbrauch“.
Und was dann passierte, ist für mich bis heute ein Wunder. Seitdem bin ich der Überzeugung, dass Mut tatsächlich belohnt wird. Denn ich fand die wunderbare Seite von Dr. Dunja Voos. Zu lesen, dass das Feuchtwerden ein Schutzmechanismus bei Missbrauch und Vergewaltigung sein kann, war für mich unbeschreiblich erleichternd. Und hatte ich einen Moment zuvor noch aus tiefster Verzweiflung geweint, weinte ich nun vor Erleichterung. Mein Körper und meine Psyche hatten mich beschützt. Konnte ich den Situationen schon nicht entgehen (wie gesagt, die mächtigen Kindheitsmuster), versuchten mich Körper und Psyche auf diese Art zu schützen. Mir wurde schlagartig klar, dass ich am Missbrauch keine Schuld hatte. Das Feuchtwerden, mein eigenes Herbeiführen der Situationen… Alles Schutzmechanismen.
Wie ging es danach weiter?
Nachdem ich zwei Artikel von Dunja Voos gelesen hatte, war ich zwar irre erschöpft (Das war der zweite Artikel: "Das Problem bei sexuellem (Kindes-)Missbrauch: die erotische Komponente."//Nachträgliche Anmerkung 26.02.2024: Leider ist dieser Artikel nur noch für registrierte Mitglieder des Blogs von Frau Dr. Voos aufrufbar.). Doch gleichzeitig hatte ich das Gefühl, wie neugeboren zu sein. Ich empfand tiefste Dankbarkeit meinem Körper und meiner Psyche gegenüber. Das ist bis heute so. Die tiefen Schuldgefühle lösten sich schlagartig auf. Und genau das möchte ich jedem Missbrauchsopfer mitgeben: Du hast keine Schuld. Auch wenn du vielleicht ganz fest davon überzeugt bist. Nein, du hast keine Schuld. Es liegt nicht an dir, deinem Körper, deinem Verhalten, deinen Worten, deinen Blicken. Ich kenne die verdrehten Schuldgefühle ja selbst zu gut und deshalb darfst du mir glauben, wenn ich sage:
Du
hast
KEINE
Schuld.
Nachdem mir also klar wurde, dass ich nichts für den Missbrauch konnte, stand gleich die nächste Herausforderung vor mir: Wie gehe ich mit dem schweren Vertrauensmissbrauch um? Denn auch diesen erkannte ich nun erstmals klar und deutlich. Wieder eine Person, auf die ich mich nicht verlassen konnte. Die mich sogar noch so widerlich ausgenutzt hatte. Gleichzeitig spürte ich damals schnell, dass mir hier Verbitterung drohte. Und das wollte ich keinesfalls. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt so viel geschafft und war so oft über mich hinausgewachsen – jetzt aufgeben? Nein. Doch wie behielt ich mir die neu gewonnene Lebensfreude?
Auch wenn ich ein großer Verfechter der Vergebung bin – beim Missbrauch konnte ich es bisher nicht. Einen Menschen zu missbrauchen bzw. zu vergewaltigen, um eigene Seelenlöcher zu stopfen? Das Missbrauchsopfer vielleicht sogar noch bedrohen? Ich finde das einfach nur feige, charakterlos und scheiße. Das verzeihen? Wie?
Mir selbst habe ich zumindest vergeben. Ich akzeptierte, was mir passiert war. Und ich erkannte, dass mich die Erfahrungen begleiten werden. Sie sind ein bitterer Teil meines Lebens und es kann immer wieder passieren, dass Bilder und diffuse Empfindungen hochkommen. Dennoch beschloss ich damals: Nie wieder, aber wirklich nie wieder, übergehe ich die eindeutigen Signale meines Körpers.
Hm, wie beendet man nun einen solchen Artikel?
Vielleicht mit einigen deutlichen Worten:
An dich, als Missbrauchsopfer:
Nein, keinesfalls ist es mir egal, was dir angetan wurde. Ich schaue da auch nicht weg. Und es tut mir wahnsinnig leid, was du erfahren musstest. Ich bin in Gedanken bei dir und wünsche mir, dass sich noch ganz ganz viele Menschen trauen, über Missbrauch und Vergewaltigung zu sprechen.
An dich, als Täter, Mittäter und
an all die Feiglinge, die sich im Darkweb aufhalten, und Missbrauch und Vergewaltigung geil finden:
Vielleicht wurdet ihr in der Kindheit selbst missbraucht. Natürlich tut mir das leid. Das gibt euch aber nicht das Recht, euch wiederum an anderen Menschen zu vergehen. Vielleicht habt ihr aber auch einfach Schiss, eure Beziehungs-, Ehe- oder Lebensprobleme anzusprechen. Dann flüchtet ihr lieber ins Internet bzw. Darkweb. Feige finde ich das, abgrundtief feige. Scheiße und würdelos.
Für eine hellere Welt
Kirsten