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Die freie Stute

Einst lebte eine braune, große Stute auf einem wohlhabenden Reitergut. Sie war klug und lernte schnell, was ihr beigebracht wurde. Doch die Stute gehörte einem strengen Herrn, der sie unentwegt strafte und schlug. Denn der hartherzige Gutsherr nahm gern mit der kräftigen Stute an Wettbewerben teil und duldete stets nur den Sieg. Wenn die beiden ein Rennen nicht gewannen, gab er hierfür der Stute die Schuld. Dann bekam sie statt Futter nur schmerzhafte Schläge und der Herr schimpfte: „Du lahmes Tier! Beim nächsten Mal strengst du dich mehr an!“ Die Stute lebte in ständiger Angst und gehorchte, so gut sie konnte. Zuwendung und lobende Worte erhielt sie nur dann, wenn der Gutsherr vor anderen Leuten mit ihrer Klugheit und ihren Erfolgen prahlen konnte. Waren sie wieder allein, machte das arme Pferd in den Augen des Mannes erneut alles falsch. 

 

Eines Tages stand ein großer Wettbewerb bevor und der Gutsherr war sehr aufgeregt. Viele Teilnehmer aus dem ganzen Land hatten sich angemeldet und der Herr wollte das Rennen unbedingt gewinnen. „Gib nur ja dein Bestes!“, herrschte er die verängstigte Stute immer wieder unter Gertenhieben an. Er drohte: „Wenn du versagst, wird es dir übel ergehen. Nutzloses Getier dulde ich nicht!“ Die eingeschüchterte Stute fürchtete um ihr Leben. 

 

In der Nacht vor dem Wettrennen passierte dem aufgebrachten Gutsherrn aufgrund seines ungezügelten Zorns ein Missgeschick. Er ließ die sonst gut verschlossene Stalltür versehentlich offen und die kluge Stute erkannte ihre einmalige Gelegenheit zur Flucht. Als alle zu Bett gegangen waren, stürmte das Pferd über die Wiesen des Reitergutes und sprang mit Leichtigkeit über die abgrenzenden Zäune. Die Stute rannte, als ob einhundert wütende Gutsherren hinter ihr her gewesen wären. Denn das mutige Tier wusste, dass es weit fliehen musste, um seinem tyrannischen Herrn zu entkommen. 

 

Die Stute rannte und rannte, bis sie schließlich an einem weit entfernten Fluss erschöpft niedersank. Sogleich fiel sie in einen tiefen Schlaf. Doch welch großer Schreck fuhr ihr durch die Glieder, als sie von einem unheimlichen Knurren geweckt wurde! Ein Rudel Wölfe hatte das am Boden liegende Pferd als Beute ausersehen. Nur knapp entkam die entsetzte Stute ihrem Schicksal. Sie war die Schläge und Drohungen des Gutsherrn gewöhnt, aber keine Raubtiere. 

 

Auch geeignetes Futter musste sie nun selbst finden. Doch welche Kräuter und Knospen waren essbar und welche nicht? Die Stute hatte durch das Leben auf dem Reitergut verlernt, ihren natürlichen Instinkten zu folgen und somit in der Wildnis zu überleben. Sie trat nicht aus, wenn sie bedrängt wurde; fraß häufig ungenießbare Gräser und begegnete immer wieder gefährlichen Raubtieren. Als dann auch noch der Winter nahte, wuchs der Stute kein dichtes, schützendes Winterfell. Das Pferd spürte, in welcher Gefahr es schwebte. Doch was konnte sie tun? Erschöpft und vereinsamt zog sie sich in eine abgelegene Höhle zurück. 

 

Der Winter kam und legte eine hohe Schneedecke auf das Land. Die Stute litt schlimmen Hunger; sie hatte vergessen, dass sie mit ihren Hufen den Schnee beiseite scharren konnte, um an darunterliegende Gräser zu gelangen. So magerte sie immer weiter ab und als schließlich der Tod seine Hand nach ihr ausstreckte, erschien der Stute plötzlich ein Kobold. 

 

„Du einsames Pferd!“, rief er. „Was machst du so allein hier? Warum bist du nicht bei den anderen?“ 

 

„Bei den anderen?“, fragte die entkräftete Stute. 

 

„Aber ja! Hier lebt eine Herde stolzer Pferde im Tal, die dem Winter gemeinsam trotzt.“ Der Kobold schwieg einen Moment, ehe er nachdenklich fortfuhr: „Ich beobachte dich schon, seit du zu uns ins Land gekommen bist. Denn es ist meine Aufgabe, stets nach dem Rechten zu sehen. Und du verhältst dich sehr merkwürdig für ein Pferd.“ 

 

Die Stute seufzte schwer. Die Worte des Kobolds waren streng, doch sie stimmten. Da begann die Stute vom Gutsherrn und ihrem Leben auf dem Reitergut zu erzählen. Sie sprach über die ständigen Drohungen, Beleidigungen, Strafen und Schläge, die sie tagein tagaus erlitten hatte. Schlussendlich schilderte sie ihre Flucht vom Gut, weil sich die Stute so sehr vor dem kaltherzigen Gutsherrn gefürchtet hatte. 

 

Der Kobold hörte aufmerksam zu. „Das ist eine schlimme Geschichte“, sagte er mitfühlend. „Ich möchte dir helfen. Du sollst wieder gesund werden und wie ein wildes Pferd leben. Ich werde die Leitpferde der Herde bitten, dich für ein Jahr bei ihnen aufzunehmen. Du sollst alles Wichtige von ihnen lernen, um in der Wildnis zu überleben.“ 

 

So geschah es. Die Stute wurde in die Herde aufgenommen und dank ihrer Klugheit lernte sie schnell. Die Pferde zeigten ihr, welche Gräser, Knospen und Kräuter genießbar waren, wie sie Wasserstellen fand und sich in eine Herde fügte. Zudem wurde die Stute von den anderen weiblichen Tieren ausdrücklich ermuntert, kräftig auszutreten, wenn ihr ein Hengst zu nahe kam. 

 

Dank dieser Hilfe und des guten Futters wuchs der Stute im Laufe der Zeit ein dichtes, langes Fell, welches sie im Winter schützte. Sie fand genug Nahrung, wehrte mit den anderen Pferden Angriffe von Raubtieren ab und als der Winter wich, war aus der einst verängstigten Stute ein stolzes, selbstbewusstes Pferd geworden. Im Frühjahr verließ sie die Herde, wie es der Kobold angekündigt hatte. Doch schon bald traf die Stute auf eine kleine Gruppe, die überwiegend aus jungen Pferden bestand. Schnell wurde die Stute ein ranghohes Tier und von den anderen wegen ihrer Klugheit und ihres Mutes sehr geschätzt. 

 

Damit begann für die Stute ein neues, gutes Leben in Freiheit. Und der grausame Gutsherr? Der war bei der übereilten Suche nach der entflohenen Stute vor Zorn und boshaften Flüchen über seine eigenen Füße gestolpert und einen steilen Waldhang hinabgestürzt. Niemand sah den hartherzigen Mann je wieder und wenn er nicht gestorben ist, wird er noch immer unablässig von schelmischen Kobolden gepiesackt.