Es ist noch nicht lange her, da lebte ein außergewöhnlicher Junge in einer kleinen Stadt. Schon früh zeigte sich das ausgeprägte handwerkliche Geschick des Knaben und sogar die Handwerker des Ortes staunten über dessen Fähigkeiten. Er baute schöne Baumhäuser, erfand praktische Geräte, konnte mit allerlei Werkzeugen behände umgehen und ging etwas kaputt, das nicht mehr zu funktionieren schien, konnte der Junge dies reparieren. Er war wahrlich gesegnet.
Doch der aufmerksame Knabe wuchs bei einer tyrannischen und selbstgerechten Mutter auf. Von den Gaben des Kindes wollte die Frau nichts wissen, da sie sich stets nur um ihren eigenen Vorteil kümmerte. Sie schikanierte und schlug gar den Jungen, der in ihren Augen alles falsch machte. Immerzu schimpfte sie mit ihm: „Du bist ein Taugenichts! Aus dir wird nie ein richtiger Mann!“ Diese schlimmen Worte verinnerlichte der Junge im Laufe seines Älterwerdens und schließlich glaubte er ihnen. Er war überzeugt: „An mir muss etwas falsch sein, denn Mutter ist immer so wütend auf mich.“ Seine besonderen Fähigkeiten bemerkte er nicht und der heranwachsende Knabe hielt sich selbst für einen unzumutbaren Nichtsnutz.
Die Jahre vergingen und aus dem Jungen wurde ein großer, kräftiger Mann. Doch er arbeitete stets zu viel, wurde von anderen häufig ausgenutzt und er erkannte den rechten Wert seiner Leistungen nicht. Er ärgerte sich sehr über die anderen Menschen und wie sie mit ihm umgingen; doch er traute sich nicht, gegen das Unrecht aufzubegehren. Denn er hatte ja gelernt, dass ihm dann Unheil drohte.
Aufgrund der verdrängten Wut wurde der Mann eines Tages krank. Sein Rücken schmerzte sehr und er konnte nur noch wenig essen, da ihm alles sauer aufstieß. Die aufgesuchten Ärzte waren ratlos und die verordneten Arzneien halfen dem Mann nicht. „Was soll ich nur tun?“, dachte er hilflos.
Eines Nachts erwachte der Mann aus dem Schlaf, da sein Rücken noch schlimmer schmerzte als zuvor. Der stechende Schmerz raubte ihm fast die Sinne. Das Atmen fiel ihm schwer und es schien fast, als wollte ihn der Schmerz lähmen. Er wusste sich in seiner Not nicht mehr zu helfen. Da begann er zu weinen. Doch das war entsetzlich für ihn, da ihm die prügelnde Mutter eingeredet hatte, dass richtige Männer nicht weinten. Erfüllten sich somit nun die unheilvollen Worte der Mutter?
In diesem Moment, als der gepeinigte Mann von der Dunkelheit eingenommen wurde, erschien ihm ein weißer Geist. Er hatte die Gestalt einer zarten Frau, die sich ihm ruhig näherte. Sanft berührte sie das verweinte Gesicht des Mannes und sprach behutsam: „Fürchte dich nicht. Ich komme, um dir zu helfen. Denn ich weiß um deine Qualen.“ Dann nahm sie vorsichtig seine Hände, drückte sie und fuhr leise fort: „Ruhe dich aus und schlafe drei Tage lang. Wenn du erwachst, folgst du meinen Eingebungen.“ Daraufhin verschwand die Frau und der Mann schlief aufgrund seiner großen Erschöpfung schnell ein.
Nach drei Tagen wurde der Mann von warmen Sonnenstrahlen und fröhlichem Vogelzwitschern geweckt. Seine Schmerzen und die Übelkeit waren erstaunlicherweise verschwunden und er fühlte sich ausgeruht und munter. Doch wie groß war erst seine Überraschung, als er seine Hände sah! Sie waren golden und er glaubte noch zu träumen. Er eilte zum Waschbecken, aber das Gold ließ sich nicht abwaschen.
Fortan baute er die schönsten Häuser und ihm gelangen selbst die schwierigsten Reparaturen. Zudem achtete er auf die Eingebungen des Geistes und so lernte er nicht nur, den rechten Lohn für seine hervorragende Arbeit einzufordern. Mit der Hilfe des Geistes konnte der gutherzige Mann aufrichtige Menschen erkennen und wurde von diesem auch zu Pausen nach anstrengender Arbeit angehalten. Zu guter Letzt hob der Geist die bannenden Worte der Mutter, Männer dürften nicht verletzlich sein, auf, wodurch es dem Mann fiel leichter ums Herz wurde. Sodann zog sich der Geist wieder in die Anderswelt zurück.
Der redliche Mann brachte es mit seinen goldenen Händen zu großem Wohlstand. Er wurde ein angesehener Handwerker, der weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt war. Zeitlebens war ihm das Glück hold und die guten Lebensmächte wachten stets über ihn.
Kirsten Scherbaum, 21.07.2025