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Der Himmelsfalter

Für D., einen inspirierenden Lichtmenschen

Vor langer Zeit lebte ein leuchtend blauer Schmetterling in einem weit entfernten Tal. Aufgrund seiner Farbe wurde er auch Himmelsfalter genannt. Die großen Flüsse, grünen Wiesen und ausgedehnten Wälder des Tals waren seine Heimat. 

 

Als der Falter eines Tages über eine blühende Wiese flog, wurde er plötzlich von einem kräftigen Windstoß erfasst. So gelangte er in eine abgelegene, dunkle Gegend des Tals, die er nicht kannte. Da der Himmelsfalter jedoch mutig und neugierig war, sorgte er sich nicht weiter. Ruhig saß er auf einem Stein und beobachtete die ungewohnte Umgebung. 

 

Nach einiger Zeit bemerkte der Falter ein silbernes Funkeln. Es kam aus einer Höhle und zog den Himmelsfalter magisch an. Er wollte unbedingt die Quelle des Glitzerns herausfinden. Unbekümmert flog er los und immer tiefer in die Höhle hinein. Schließlich entdeckte der Schmetterling eine große, silbrige Pfütze. Doch wie erschrak er da! Von der Pfütze abgewandt lag ein großes Geschöpf und schien nicht zu atmen. Ein solches Wesen hatte der Falter noch nie gesehen und er wusste nicht, was er tun sollte. Auf einmal hörte der Himmelsfalter eine sanfte Stimme, die flüsterte: „Trink.“ Wer hatte da zu ihm gesprochen? Der Falter wusste es nicht. Er vertraute jedoch der Stimme und näherte sich langsam der silbernen Pfütze. Das große Geschöpf machte ihm Angst, doch es regte sich nicht. 

 

Da hörte der Himmelsfalter erneut die ruhige Stimme: „Trink. Das sind magische Tränen.“ Nach diesen Worten trank der Schmetterling vorsichtig von den silbrigen Tränen und sah danach das von ihm abgewandte Wesen an. Dessen Haut war vom Schwanz bis zum Kopf mit runzligen, grauen Schuppen bedeckt und der Falter hatte den Eindruck, als sei es einst viel größer gewesen. War es etwa eingetrocknet? 

 

Plötzlich seufzte das geschwächte Geschöpf und der Himmelsfalter wurde aus seinen Gedanken gerissen. Er fasste sich ein Herz, flog zu dem unbekannten Tier und setzte sich sanft auf dessen Wange. Nur mit größter Anstrengung konnte der entkräftete Drache kurz zum Falter blicken. Die Augen des Drachen waren trüb und müde. Was war nur mit ihm geschehen? In diesem Augenblick erschien dem Himmelsfalter ein weißer Geist. „Fürchte dich nicht“, sagte dieser leise und der Falter erkannte die Stimme wieder. Der Geist hatte ihn also aufgefordert, von den silbernen Drachentränen zu trinken. Der Schmetterling blickte zu dem Geist, woraufhin dieser begann, die Geschichte des Drachen zu erzählen. 

 

Als der Drache noch klein war, fielen bereits seine außergewöhnlichen Talente und Begabungen auf. So konnte er zum Beispiel mehrere Musikinstrumente spielen und erlernte leicht unterschiedliche Sprachen. Der kleine Drache konnte sogar Stimmen nachahmen und stellte damit allerhand Lustiges an. Zudem war er offenherzig und feinfühlig. Doch der kleine Drache hatte strenge Eltern und Großeltern, die es nicht gerne sahen, wenn er sich ausruhte. So erhielt er nur dann Zuwendung und liebe Worte, wenn er fleißig und ordentlich war. In den Augen seiner Familie machte der kleine Drache viele Fehler, wofür er häufig bestraft wurde. Er litt sehr unter dieser Lieblosigkeit. 

 

Je älter und kräftiger der Drache wurde, desto mehr arbeitete er. Dies verlangte seine Familie auch von ihm. Es fiel ihm sehr schwer, Pausen zu machen und sich nach anstrengender Arbeit zu erholen. Denn der Drache hatte ja gelernt, dass ihm dann Unheil und Zurückweisung drohten. So übernahm er auch Gefallen für andere, die den Drachen aber nur ausnutzten. Mit verführerischen Worten gaukelten sie dem Drachen Liebe vor, doch waren sie dabei nur an dessen Klugheit und Reichtümern interessiert. Hatten sie den Drachen lange genug ausgenutzt, verließen sie ihn. Das tat dem Drachen entsetzlich weh und er dachte: „Ich habe mich wohl nicht genug angestrengt. Beim nächsten Mal strenge ich mich einfach noch mehr an und werde endlich geliebt.“ Leider durchschaute der Drache die üblen Absichten der anderen häufig nicht, da er sich so sehr nach echter Herzenswärme und Liebe sehnte. 

 

Aufgrund des Leids schwanden dem Drachen allmählich die Lebenskräfte. Seine einst schillernden und farbenprächtigen Schuppen wurden immer blasser und ergrauten schließlich. Die Lebenssäfte ließen nach, wodurch der Drache sogar schrumpfte. Doch er arbeitete stets weiter, erlaubte sich keine Pausen und übernahm weiter Gefallen für andere. So wurde der Drache immer einsamer und schwächer. Schlussendlich war er derart erschöpft und enttäuscht, dass er sich zurückzog und Zuflucht in der abgelegenen Höhle fand. Er weinte bittere Tränen, doch niemand kam, um den Drachen zu trösten. 

 

Nach diesen Worten war es dem Himmelsfalter unbeschreiblich schwer ums Herz. Der betrübte Falter überlegte, wie er dem armen Drachen helfen konnte. Doch wollte der Erschöpfte überhaupt Hilfe? Der Himmelsfalter dachte nach. 

 

Schließlich flüsterte er zu dem Drachen, auf dessen Wange er noch immer saß, in der Sprache der Schmetterlinge: „Wenn du auf die andere Seite gehen möchtest, bleibe ich bis zu deinem letzten Atemzug bei dir. Im Moment des Todes lasse ich dich nicht allein. Ich bleibe solange bei dir, bis deine Seele sicher auf der anderen Seite angekommen ist.“ Dann wurde der Falter still. 

 

In der Nacht verschied der Drache. 

 

Der Himmelsfalter tat, was er versprochen hatte. Er blieb bei dem toten Drachen, bis er wusste, dass dessen Seele wohlbehalten im Jenseits aufgenommen worden war. Danach flog er aus der Höhle und der sanftmütige Geist, der die Geschichte des Drachen erzählt hatte, führte den Falter zurück in seine Heimat. Dank der magischen Kräfte der Drachentränen, die der Himmelsfalter getrunken hatte, führte er ein langes, gesundes Leben. Er verbreitete die Geschichte des Drachen, sodass sie weit über die Grenzen des Tals hinaus bekannt wurde. Und jeder, der sich von der traurigen Erzählung berühren ließ, achtete fortan besser auf seine Nächsten.

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